Karthago: Neue Metropole im Westen

Karthago: Neue Metropole im Westen
Karthago: Neue Metropole im Westen
 
Gades im Südwesten Spaniens und Utica in der Mitte der nordafrikanischen Mittelmeerküste wurden nach dem Zeugnis der antiken Quellen von Seefahrern aus Tyros gegründet; beide dienten zunächst vielleicht als Verlade- und Verpflegungshäfen für den phönikischen Fernhandel. Karthago dagegen ist eine »neue Stadt«, wie es auch ihr semitisch-phönikischer Name Kart-Hadascht hervorhebt. Gegründet wurde sie von der tyrischen Königstochter Dido, die daheim ihren Herrschaftsanspruch gegen den jüngeren Bruder nicht durchsetzen konnte und mit ihren Anhängern die »neue Heimat« im Westen suchte. Karthago bot mit seinem Hafen, der das ganze Jahr über gefahrlos angelaufen werden kann, und seinem fruchtbaren Hinterland eine »geräumige« Lage, die der Ansiedlung und Entwicklung einer größeren Bevölkerungsgruppe Platz ließ und Nahrung zur Verfügung stellte. Die tyrische Prinzessin hätte also keine bessere Wahl treffen können.
 
Demnach ist Karthago bereits als »Stadt« gegründet worden. Dafür sprechen auch die archäologischen Zeugnisse der ältesten Schichten. Die Ausdehnung der Stadt, bis an die vor ihren Toren gelegenen Friedhöfe (Nekropolen), lässt sich einigermaßen rekonstruieren; sie betrug zwischen 25 und 35 Hektar Fläche - annähernd so viel, wie für Tyros selbst angenommen wird.
 
Bereits in frühpunischer Zeit, vom 8. bis 6. Jahrhundert v. Chr., war Karthago eine dicht bevölkerte Stadt. Die Häuser grenzten unmittelbar aneinander und waren in »Häuserblocks« innerhalb eines rechtwinkligen Straßensystems angeordnet. Anstelle der anfänglich vorherrschenden einfachen Lehmziegelbauweise trat gegen Ende des 7. Jahrhunderts eine ältere, überlegene Mauertechnik aus dem Orient, das »Opus Africanum«: grob zugeschlagene Steinpfeiler mit kleinformatigem »Mauerwerk« dazwischen. Die Hauseingänge öffneten sich auf befestigte Straßen mit zentralem Abwasserkanal oder auf kleinere Gassen. Die Häuser besaßen mehrere Stockwerke, die über Holztreppen zugänglich waren. Ob es in der spätpunischen Stadt wirklich bis zu sechsgeschossige Gebäude gab, wie antike Autoren berichten, bleibt jedoch ungewiss. Zur Wasserversorgung dienten zunächst Schöpfbrunnen, später Zisternen. Die Innenausstattung der Häuser war, zumal in der Spätzeit der Stadt, ausgesprochen luxuriös. Bei den Fußbodenbelägen konnte man die Farbe durch in den Mörtel eingestreute Keramik- und Kalksteinsplitter bestimmen (»Opus Signinum«). In dieses Mörtelgemisch eingelegte, rechteckig bis quadratisch geschnittene Marmor- oder Kalksteinstücke sorgten zusätzlich für dekorativen Reiz. In den der Witterung stärker ausgesetzten Räumen wurde das untere Drittel der Wände zur leichteren Reinigung mit dem wasserfesten Opus Signinum verputzt, während die oberen Wandbereiche und Zimmerdecken wie üblich mit dem empfindlicheren weißen oder bemalten Kalkputz und feinen Stuckprofilen ausgekleidet waren.
 
Den großstädtischen Charakter Karthagos prägten nicht nur vornehme Wohnviertel, sondern auch gewerbliche Quartiere und öffentliche Einrichtungen. Von den zahlreichen Heiligtümern, die diese Stadt allein nach den historischen Zeugnissen besessen haben muss, sind bisher nur wenige lokalisiert worden. Darunter befinden sich, in der Nähe des Tophet-Heiligtums, ein kleiner, rechteckiger Bau mit Altar an der Rückwand, die nach dem Ausgräber benannte »Chapelle Carton«, und ein kürzlich freigelegtes Tinnit-Heiligtum. Der griechische Geschichtsschreiber Appian berichtet, dass die römischen Soldaten bei der Zerstörung Karthagos im Jahre 146 v. Chr. einen bei der punischen Agora gelegenen »Tempel des Apollon« (wohl ein Tempel des phönikischen Gottes Reschef) plünderten. Mit diesem Tempel sind vielleicht die Reste eines nördlich vom Kriegshafen ausgegrabenen, spätklassischen Gebäudes gleichzusetzen. Im Tempelarchiv lagerten Papyrusurkunden, deren zugehörige Tonsiegel sich erhalten haben. Die architektonischen Reste dieses Tempels und andere Indizien bezeugen, dass sich die karthagische Monumentalarchitektur spätestens seit der mittelpunischen Zeit auch der griechischen Formensprache bediente. Die alten kulturellen Leitbilder, die teilweise auf bronzezeitliche Traditionen zurückgingen, hatten im 5. Jahrhundert v. Chr. sowohl in den phönikischen Städten an der Levanteküste als auch in Karthago und in den phönikischen Niederlassungen im Westen ihren Glanz verloren und wurden dann vollends von denen der hellenistisch-griechischen Welt abgelöst.
 
Die straffe Organisation des karthagischen Wirtschaftslebens lässt sich den wenigen erhaltenen Inschriften und anderen historischen Quellen entnehmen. In den Dienstleistungsbereichen werden beispielsweise der Arzt, der Schreiber und der Dolmetscher genannt. Bemerkenswert ist die berufliche Spezialisierung in der Warenproduktion. Hier sind vom Weber, Schreiner, Steinmetz und Metallgießer über den Parfümkocher bis hin zu den Herstellern von verschiedensten Luxusartikeln aus Elfenbein und Straußeneiern, aus Glas, Gold und Edelsteinen alle Fachrichtungen vertreten. Leistungsfähige Gewerbebetriebe und »Fabriken«, darunter auch die für Karthago typischen Purpurfärbereien, sicherten die Produktion für den lokalen Markt und für den Export. Für den Vertrieb und dessen Finanzierung sorgten Kaufleute, Reeder und Bankiers. Größte wirtschaftliche Bedeutung besaß der Handelshafen mit seinen Kais, Schiffshäusern und Warenlagern. Die Blüte dieser mediterranen Großstadt, zu der sich Karthago auch nach historischen Rückschlägen wie den ersten beiden Punischen Kriegen immer wieder aufschwingen konnte, war bekanntlich die Ursache für den Neid der Römer, der sich in den Worten des alten Cato: »Ceterum censeo Carthaginem esse delendam« (»Im Übrigen stimme ich dafür, Karthago zu vernichten!«) verewigt hat.
 
Der Tisch der karthagischen Durchschnittsfamilie war reich gedeckt: Aus dem fruchtbaren Hinterland kamen Getreide (Weizen, Emmer, Gerste), Hülsenfrüchte (Bohnen, Linsen) und Obst (Feigen, Granatäpfel, Datteln), Oliven und Wein. Mohnsamen lassen vermuten, dass auch die berauschende Wirkung von Opium bekannt war. In frühpunischer Zeit wurden vor allem Rinder, Schafe, Ziegen, seltener Hühner verzehrt, während im 5. oder 4. Jahrhundert v. Chr. der Genuss von Fisch, Weich- und Schalentieren zunahm. Schweinehaltung war selten und kann lediglich für die Frühzeit Karthagos belegt werden. Hier wirkte wohl auch das aus der Bibel bekannte semitische Tabu beziehungsweise Reinheitsgebot. Die Qualität vieler Produkte und die perfekt beherrschte Technik in Landwirtschaft und Bauwesen muss vorbildlich gewesen sein. Das wird vor allem daran deutlich, dass die Römer dies alles von ihren Feinden übernommen und mit der Bezeichnung »punisch« wie mit einem Gütesiegel versehen haben.
 
Die Kombination der für Karthago so günstigen Bedingungen - der ausgedehnte Fernhandel, die wirtschaftliche Unabhängigkeit sowie ein gut funktionierendes Staatswesen, wozu auch ein exzellentes Militär gehörte - begründete die Stärke dieser Metropole im Zentrum des Mittelmeerraums. Obwohl die Stadt erst sehr spät, und auch nur in bestimmten Gebieten des westlichen Mittelmeers, so etwas wie ein territoriales Imperium aufbauten konnte - hier ist an Sardinien, das westliche Sizilien (Palermo, Motye), an Ibiza und das von Hamilkar eroberte Spanien zu erinnern -, war Karthago im Hinblick auf Kunst und Kultur wohl schon bald das dominierende Zentrum der westphönikischen Welt, die wir nach dem Vorbild der Römer die punische zu nennen gewohnt sind.
 
Aus den historischen Quellen erfahren wir wenig darüber. Doch die besondere und charakteristische Eigenart der Identität stiftenden Glaubensvorstellungen und Kulturtraditionen, die sich in der Formen- und Bilderwelt der punischen Siedlungen manifestieren, sprechen eine deutliche Sprache. An den Unheil abwehrenden, grimassierenden Terrakottamasken Sardiniens und Karthagos, an den Grabstelen Siziliens, Sardiniens und Karthagos mit ihren nahezu abstrakten Idolen, an den für den heutigen Betrachter nur drollig aussehenden tönernen Votivstatuetten von Ibiza, Sardinien und Karthago lassen sich die kulturelle Dominanz der großen Handelsmetropole Karthago und die bei aller kulturellen Individualität weitgehend abhängige Provinzialität der Lokal- und Regionalkulturen gut ablesen. Diese Kulturtraditionen blieben auch über die Vernichtung Karthagos im Jahre 146 v. Chr. durch die Römer hinaus lebendig.
 
Prof. Dr. Hans Georg Niemeyer

Universal-Lexikon. 2012.

Игры ⚽ Нужно сделать НИР?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Phönikien — Phöniki|en,   Phönizi|en, griechisch Phoinịke [»Purpurland«], lateinisch Phoenicia, im Altertum griechischer Name der historischen Landschaft an der syrisch libanesisch israelischen Mittelmeerküste etwa zwischen Latakia und Akko (Akkon).… …   Universal-Lexikon

  • Volkswanderungen — Spangenhelm aus dem 6. Jahrhundert, Import aus oströmischen Werkstätten. Der Begriff Völkerwanderung bezeichnet allgemein eine Wanderbewegung, bei der eine große Zahl Menschen aus einer Volksgruppe oder eine ganze Volksgruppe in ein anderes… …   Deutsch Wikipedia

  • Völkerwanderungszeit — Spangenhelm aus dem 6. Jahrhundert, Import aus oströmischen Werkstätten. Der Begriff Völkerwanderung bezeichnet allgemein eine Wanderbewegung, bei der eine große Zahl Menschen aus einer Volksgruppe oder eine ganze Volksgruppe in ein anderes… …   Deutsch Wikipedia

  • Völkerwanderung — Spangenhelm aus dem 6. Jahrhundert, Import aus oströmischen Werkstätten. In der historischen Forschung wird unter dem Begriff Völkerwanderung im engeren Sinne die Wanderbewegung vor allem germanischer Gruppen im Zeitraum vom Einbruch der Hunnen… …   Deutsch Wikipedia

  • Byzantinisches Kaiserreich — Dieser Artikel erläutert das Byzantinische Reich, dessen frühe Periode als Oströmisches Reich oder auch Ostrom bezeichnet wird; zu anderen Bedeutungen von Ostrom siehe Ostrom (Begriffsklärung). Die Gebietsveränderungen des Byzantinischen Reiches… …   Deutsch Wikipedia

  • Ostrom — Dieser Artikel erläutert das Byzantinische Reich, dessen frühe Periode als Oströmisches Reich oder auch Ostrom bezeichnet wird; zu anderen Bedeutungen von Ostrom siehe Ostrom (Begriffsklärung). Die Gebietsveränderungen des Byzantinischen Reiches… …   Deutsch Wikipedia

  • Oströmisch — Dieser Artikel erläutert das Byzantinische Reich, dessen frühe Periode als Oströmisches Reich oder auch Ostrom bezeichnet wird; zu anderen Bedeutungen von Ostrom siehe Ostrom (Begriffsklärung). Die Gebietsveränderungen des Byzantinischen Reiches… …   Deutsch Wikipedia

  • Oströmisches Reich — Dieser Artikel erläutert das Byzantinische Reich, dessen frühe Periode als Oströmisches Reich oder auch Ostrom bezeichnet wird; zu anderen Bedeutungen von Ostrom siehe Ostrom (Begriffsklärung). Die Gebietsveränderungen des Byzantinischen Reiches… …   Deutsch Wikipedia

  • Romaioi — Dieser Artikel erläutert das Byzantinische Reich, dessen frühe Periode als Oströmisches Reich oder auch Ostrom bezeichnet wird; zu anderen Bedeutungen von Ostrom siehe Ostrom (Begriffsklärung). Die Gebietsveränderungen des Byzantinischen Reiches… …   Deutsch Wikipedia

  • Byzantinisches Reich — Die Gebietsveränderungen des Byzantinischen Reiches (rot: Byzantinisches Reich / grün: unter Justinian I. zurückeroberte Provinzen des ehemaligen weströmischen Reiches) Das Byzantinische Reich (griechisch Βυζαντινή Αυτοκρατορία, offiziell stets… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”